Stellen wir in der (psychiatrischen) Pflege den betroffenen Menschen mit seiner Identität, all seinen Möglichkeiten und Herausforderungen in den Mittelpunkt, befinden wir uns bereits am Anfang eines Recovery-Prozesses. Manchmal auch ohne zu wissen, was das überhaupt ist und welche riesigen Potentiale hier schlummern, die nur darauf warten, geweckt zu werden.
Recovery ist eine Haltung, die Pflegekräfte in ihren Arbeitsbereichen leben. Patient*innen bzw. Bewohnenden begegnen wir auf Augenhöhe. Im Zentrum steht dabei Empowerment (deutsch: Ermächtigung bzw. Selbstbefähigung): Dahinter stehen „Prozesse, in deren Verlauf Menschen – in der Regel sozial benachteiligte Gruppen – Möglichkeiten und Fähigkeiten gewinnen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.“ (Quelle: „Recovery für die Seele“, Informationsschrift vom Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V., 1. Auflage 2016)
In der klinischen Psychiatrie sind Recovery-Strukturen oft schon Gang und Gäbe. Parallel zu einer etwaigen medikamentösen Therapie werden die Patient*innen unter anderem auf ein Leben nach dem Stationsaufenthalt vorbereitet. In der Regel gibt es Recovery-Gruppen, die beispielsweise mit einer Morgenrunde starten. Andere Gruppen befassen sich mit Achtsamkeitsübungen. Je nach Stationssetting werden solche Gruppen von den Pflegekräften angeleitet oder nur begleitend koordiniert und die Patient*innen übernehmen die Regie. Menschen mit ähnlichen Problemen oder Lebenslagen erleben Gemeinschaft und Austausch und strukturieren gemeinsam den Tag. Statt einseitige „Versorgung“ durch das Personal lernen sie, in Gemeinschaft selbstorganisiert und selbstbestimmt ihre Anliegen zu organisieren. Im Idealfall nehmen sie wichtige Impulse für ihr Leben nach dem klinischen Aufenthalt mit oder erhalten im ambulant-pflegerischen Setting weitere Unterstützung, um ihren persönlichen Recovery-Plan umzusetzen.
Betrachten wir die Bereiche der stationären Langzeitpflege und des Wohnens im Bereich der Eingliederungshilfe (EGH), ist ebenfalls ein riesiges Chancenpotential sichtbar. Recovery lässt sich individuell und in Gruppen realisieren, wobei sich Ziele an den Möglichkeiten der betroffenen Menschen orientieren. Sehen wir einen Klienten mit starker körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung, geht es darum, ihm ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung (zurück) zu geben, das seine Lebensfreude und Lebensqualität steigert. Unsere Pflegeplanungen, die zum Beispiel im Rahmen von Strukturierten Informationssammlungen (SIS®) und Tagesstrukturplänen erarbeitet werden, können dazu dienen, jedem einzelnen Bewohnenden ein eigenes Recovery-Konzept zukommen zu lassen. Eines, das nicht nur eine notwendige Akte ist, sondern tatsächlich mit Leben gefüllt wird.
Aus der Perspektive der Pflege- und Wohnheime ist in vielen Bereichen neues Denken und Handeln angesagt, denn es geht unter anderem darum, typische Pflegeheim- oder sogar Krankenhaus-Atmosphäre durch wohnliches Ambiente zu ersetzen. Das beginnt mit dem Essen. Bewohnende erhalten oft portionierte Teller oder vorgefertigt geschmiertes Brot. Ihre Mahlzeiten nehmen sie in großen Sälen zu sich, die Sitzordnung wird vom Personal vorgegeben. Was spräche gegen kleine Gruppen, die sich idealerweise selbst oder mit Unterstützung bilden, dazu Essenstöpfe auf dem Tisch mit Selbstbedienung. Die Aufgabe des Personals: Punktuelle Unterstützung leisten bei Umsetzungsproblemen aufgrund von Handicaps.
Viele Bewohnende benötigen ihr eigenes Recovery-Konzept und sind dabei auf Unterstützung angewiesen. Da ist es angesagt, zu den ursprünglichen Gedanken, die es mit der Einführung der SIS® gab, zurückzukehren. Interessen, Ressourcen, aber auch Probleme können mit den Bewohnenden (ggf. auch mit ihren Angehörigen) gemeinsam erfasst werden. Aus der resultierenden Informationssammlung formen wir eine Tagesstruktur, die individuell zugeschnitten ist. Bei Bewohnenden, die häufig unter Anspannungssituationen leiden, kann eine Tagesstruktur Skillstraining beinhalten, angefangen von kleinen Skills wie ein Igelball bis hin zu organisierten sportlichen Aktivitäten oder Gruppenaktivitäten wie gemeinsames Backen oder Kochen, wohlgemerkt: Alles findet regelmäßig statt.
In vielen weiteren Bereichen können Bewohnende ihr Lebensumfeld selbstständiger und selbstbestimmter organisieren. Dazu gehören kleine hauswirtschaftliche Aufgaben wie das Abdecken des Tisches, Einräumen des Geschirrspülers oder die Dekoration des Essbereiches. Das setzt voraus, dass Pflege, Betreuung, Hauswirtschaft und weitere Aufgabenbereiche sich viel stärker als gemeinsames Team definieren und Formen finden, die Zusammenarbeit durch regelmäßige Besprechungen zu stärken. Eine Lenkung durch das Team könnte erfolgen, indem man Bewohnende mit unterschiedlichen Handicaps motiviert, ihre ebenfalls unterschiedlichen Fähigkeiten ausgleichend einzusetzen. Der Bewohnende mit einer Intelligenzminderung setzt seine physiologischen Fähigkeiten ein, um Bewohnende mit kognitiven Stärken, jedoch vorhandenen körperlichen Beeinträchtigungen zu unterstützen. Letztere wiederum sind in der Lage, Orientierung zu stiften, um gemeinsame Aktivitäten durchzuführen. Somit schaffen wir bereits eine Recovery-Gruppe, die mit gemeinsamer Organisation und Selbstbestimmung die Lebensqualität für alle Beteiligten durch sinnstiftende Aufgaben erhöht.
Mitarbeitende aus allen Bereichen sollten nicht verpflichtet, sondern überzeugt und motiviert werden, neue Wege in der Arbeit mit den Bewohnenden mitzugehen. Dabei agieren wir nicht nur mit den Bewohnenden, sondern auch als Team bestehend aus Betreuungs- und Pflegekräften, Mitarbeitenden der Hauswirtschaft sowie externen Kräften miteinander auf Augenhöhe. Damit nehmen wir Abstand von der oft empfundenen „Pflege am Fließband“ und schaffen nicht nur mehr Zufriedenheit bei den Bewohnenden, sondern auch bei den Mitarbeitenden.
Dieser Beitrag ist eine komprimierte Fassung der Verschriftlichung meines Abschlussprojektes in der Weiterbildung zur Fachkraft für psychiatrische Pflege am Ammerländer Ausbildungszentrum.