Besinnlich und ruhig, nahezu harmonisch. So begegnet uns an einem schönen Sommertag Anfang August 2019 das sogenannte Demenzdorf „De Hogeweyk“ in den Niederlanden. Im Amsterdam-Urlaub ist es ein spontaner Entschluss, der uns veranlasst, kurzerhand mit gemieteten Fahrrädern ins rund 20 Kilometer entfernte Städtchen Weesp zu fahren, um diese weltbekannte Einrichtung einmal persönlich in Augenschein zu nehmen. Dabei dürfen wir uns nicht einmal sicher sein, überhaupt Einlass zu erhalten. Zwar gibt es offizielle Führungen durch das „Dorf“. Allerdings ist die Teilnahme nicht gerade für das kleine Portemonnaie buchbar, schon gar nicht ohne vorherige Anmeldung.
Angekommen wirkt die Einrichtung – ein dunkelroter Backsteinbau – von außen betrachtet wenig spektakulär, was auch nicht wirklich erstaunlich ist. Schließlich spielt sich das Leben für die Menschen ausschließlich innerhalb des Komplexes ab. Wir betreten das kleine Eingangsfoyer, stellen uns an der Rezeption persönlich und beruflich vor. Und tatsächlich: Eine freundliche Mitarbeiterin namens Barbara vom Besuchermanagement gestattet uns den freien Zutritt.
Ohne Begleitung dürfen wir uns im berühmten Demenzdorf bewegen und begeben uns in eine andere Welt. Direkt beim Betreten des Dorfes befinden wir uns schon im Zentrum des Geschehens: Ein Innenhof, der wie ein kleiner Marktplatz mit Sitzgelegenheiten und schattenspendenden Bäumen wirkt. Ringsherum befinden sich Geschäfte und Lokale, als wäre man in einer ganz gewöhnlichen kleinen Stadt. Modern, barrierefrei und friedlich, zum Verweilen einladend. „Schauen Sie sich gerne alles an, zum Beispiel den Supermarkt und das Café“, ruft uns Barbara noch hinterher. Die Einladung nehmen wir an und begeben uns in den Supermarkt. Anfängliche Scheu können wir schnell überwinden. Eine junge Frau, aufgewachsen im Ruhrgebiet und entsprechend auch deutschsprechend, arbeitet an diesem Tag als Supermarkt-Kassiererin. „Klar, kommt gerne rein“, entgegnet sie unsere zaghafte Nachfrage, ob wir eintreten dürfen und wir erfuhren, dass auch wir als Besuchende des Dorfes ganz normal einkaufen können. Klein, aber fein ist der Markt, nichts ist hier „fake“. Es sind echte Produkte des täglichen Bedarfs, erwerbbar für echtes Geld zu ziemlich normalen Preisen. Kurz nach der Mittagszeit herrscht gerade wenig Trubel. Wir kaufen ein bisschen Reiseproviant ein und kommen mit der Kassiererin ins Gespräch. Sie erzählt uns von den Bewohnenden, ihren Kunden. In kleinen Wohngruppen leben sie in de Hogeweyk, gemeinsam beschließen sie, was gekocht werden soll und dann wird eingekauft. Bewohnende und Betreuende übernehmen gemeinsam den Einkauf der Zutaten. Während sie erzählt, kommt eine Kundin in den Supermarkt, eine ältere Dame, freundlich zugewandt mit Einkaufswagen. Entspannt schlendert sie durch den Markt und kauft sich ein paar Kleinigkeiten, unter anderem Pralinen und eine Seife. Mit angemessener Distanz beobachten wir die Szene. Die Dame nennt ihren Namen und die Kassiererin registriert die Produkte auf dem Einkaufsband. Damit ist der Einkauf dann auch schon erledigt, ein bisschen Smalltalk auf Holländisch inklusive. Unsere fragenden Blicke quittiert sie, nachdem die Dame bereits den Laden verlassen hat, mit dem Hinweis, dass der Einkauf von ihrem internen Konto abgebucht werde. Wir tauschen uns noch ein bisschen weiter aus, erzählen auch von uns und unseren Erfahrungen mit Menschen mit Demenz in Deutschland.
Dann bedanken wir uns für das schöne Gespräch und ziehen weiter, hören schon aus der Ferne Stimmen, die aus dem Café nebenan kommen. Mehrere Senior*innen sitzen dort, genießen ihren Nachmittagskaffee. Sie singen und lachen. Ein bisschen fühlen wir uns hier deplatziert und erfahren dann auch von einer Mitarbeiterin, dass dies das Café für die Bewohnenden sei. Man zeigt uns das Café für die Besuchenden, zum Beispiel für die Angehörigen. Auch wir gönnen uns eine Kaffeepause, ehe es dann weitergeht. Viele Läden sind vermutlich aufgrund der Tageszeit so kurz nach dem Mittag gerade nicht geöffnet, aber auch von außen können wir uns einen Eindruck von der Vielfalt machen: Eine Praxis für Physiotherapie mit diversen Fitness-Trainingsgeräten, ein Friseursalon, ein Veranstaltungsbüro, ein Theater- und Konzertsaal sowie weitere Einrichtungen. Angrenzend erreichen wir die Wohneinrichtungen, denen wir uns nicht allzu sehr nähern, um keine Privatsphäre zu verletzen. Einigen Senioren begegnen wir auf unserem Weg, sie alle eint, dass sie äußerlich entspannt wirken. Anders, als in vielen anderen geschützten Demenz-Einrichtungen. Zweimal erkunden wir den allgemeinen Bereich des Dorfes, bis wir langsam Abschied von De Hogeweyk nehmen. Mit vielen neuen Eindrücken im Gepäck und der Erkenntnis, dass es gute alternative Wohnformen für Menschen mit Demenz gibt.
De Hogeweyk ist ein Modell, bestehend seit 2009, mit inzwischen einigen Nachahmern in ganz Europa, darunter das deutsche Demenzdorf „Tönebön am See“ bei Hameln. Es gibt den Menschen mit Demenz ein hohes Maß an Selbstbestimmung zurück. So wird zudem Freiraum gestaltet, der allerdings begrenzt auf die Einrichtung ist. Eingegrenzte Freiheit, dazu abgesehen von den Bewohnerzimmern weitgehend videoüberwacht, damit in Notfällen schnell geholfen werden kann. Jedoch das Leben scheint innerhalb dieser Grenzen lebenswerter als in vielen anderen geschützten Bereichen zu sein.
Auflage war, dass wir unter anderem auf Fotografien und Videoaufnahmen verzichten. Dies respektierten wir selbstverständlich, daher gibt es auch in diesem Beitrag – abgesehen von der Außenansicht – keine Fotos. Die Website des Projekts gibt bildliche Einblicke.
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